Für Trainer, Coaches, Dozierende: Professionelles Sehen

Es ist immer enttäuschend, wenn keine Reaktion kommt und ich Interaktion suche. Was soll ich tun? Jemand anderen fragen? Werde ich Glück haben?

Comic: Dr. Jane Bormeister

Auf meinem Monitor sind 23 Studierende eingeloggt. Riesengroß sehe ich mein eigenes Konterfei. Ich versuche mich selbst zu ignorieren. Ertappe mich immer wieder dabei, wie ich mein Videobild checke und mich ärgere: Wie sehe ich denn aus? Der Pickel. Die tiefer werdenden Falten. Die schlecht sitzende Frisur. Ich wundere mich über mein Outfit, wie langweilig es in der Kamera aussieht. Ich bin von mir selbst abgelenkt.

Ärgere mich über mich und meine 23 unsichtbaren, stummen Studierenden. Hätte nur eine einzige Person  ihr Videobild an, wäre mein Videobild halb so groß. Wenn noch eine weitere Person sichtbar wäre, noch besser. Dann wäre mein eigenes Bild nur ein Viertel so groß. Auch der Pickel wäre nur ein Viertel groß.

Zwei von 23 brauche ich.

Sie bleiben stumm und unsichtbar. 

Ich schaue mich selbst an.

Versuche mit meiner Guten-Laune-Stimme für mein Thema zu begeistern. Entertaine. Umgarne. Versuche mit all meinem Witz und Charme meinem Publikum irgendeine Reaktion zu entlocken.

Es ist zäh. Die Reaktionen sind langsam und zeitverzögert. Ich kenne meine Gruppen. Weiß, wen ich zuverlässig ansprechen kann und von wem ich eine Antwort bekomme. Ich spreche eine Person direkt an.

Ich frage sie etwas.

Stille. 

Es ist immer enttäuschend, wenn gar keine Reaktion kommt und ich verzweifelt auf der Suche nach Interaktion bin. Was soll ich tun? Jemand anderen fragen? Werde ich Glück haben oder bleibt der Online-Raum heute stumm und unsichtbar? Lachen sie mich aus? Sind sie gelangweilt? Sind sie da?

Stille.

Ich überlege, wie ich als nächstes reagiere.

Dann, ein kleines Zucken im online Raum. Die Stummschaltung der Teilnehmerin wird aufgehoben. Das Mikro ist frei.

Ich freue mich. 

Dann die Antwort: Wie war noch mal die Frage? 

Bin frustriert. Enttäuscht. 

Wiederhole mit meiner Guten-Laune-Stimme die Frage. Versuche, mir meine Frustration nicht anmerken zu lassen. 

Die Show muss weitergehen.

Online kann ich nicht zuverlässig einschätzen, wie es meinem Publikum geht, was es tut, geschweige denn, was es braucht.

Online-Unterricht ist wie eine Black-Box.

In der Theorie zur Professionellen Wahrnehmung beschreibt Goodwin (1994), dass verschiedene Berufsstände unterschiedliche Praktiken des professionellen Sehens anwenden. Archäologen, Polizisten, Lehrer, Ärzte - jeder Berufsstand bildet eine bestimmte professionelle Art des Sehens aus.

Beim Unterrichten geht es um die Fähigkeit, relevante Merkmale von Unterrichtssituationen zu bemerken und interpretieren (van Es & Sherin, 2002).

Erfahrene Lehrkräfte machen das automatisch.

Ein Merkmal des Bemerkens ist, das Bemerkenswerte in der jeweiligen Situation zu erkennen: Was tun die Teilnehmenden? Wie denken sie über den Lernstoff? Wie motiviert sind sie?

Unterrichten ist eine komplexe Angelegenheit. Zu jeder Zeit müssen Lehrkräfte darauf achten, was die Teilnehmenden tun und sagen, wie sie über das Thema und den Unterricht denken, wie motiviert sie sind. Die Kunst ist es, die entscheidenden Momente herauszufiltern. 

Wenn im Präsenzseminar zwei Teilnehmende miteinander reden, muss schnell entschieden werden, ob sich beide langweilen, Witze über jemanden machen oder ob sie sich gegenseitig Ideen erklären und einander helfen, ein schwieriges Konzept zu verstehen. Je nach meiner gewählten Interpretation muss ich mich für eine Reaktion entscheiden: Frage ich nach? Ignoriere ich sie? Werfe ich einen strengen Blick zu? Nicke ich verständnisvoll?

Erfahrene Lehrkräfte stellen eine Verbindung vom Ereignis im Raum zum Thema und zum Lehren und Lernen her. Sie verstehen, was gerade passiert. Sie können einschätzen, was die anderen über das Thema, über sie oder andere denken und wie Handlungen das Denken beeinflussen.

Unerfahrene Lehrkräfte beschreiben bestimmte Ereignisse wortwörtlich. Sie müssen lernen,

  • bemerkenswerte Unterrichtsereignisse zu identifizieren, indem sie die Frage beantworten: Was fällt auf?
  • Beweise zu verwenden, um die Behauptung zu stützen.
  • das Ereignis zu interpretieren: Warum ist das Ereignis eingetreten? Welchen Einfluss hat das Ereignis auf das Lernen? Was haben die Teilnehmenden über das Thema verstanden?

Manchmal ist es auch wichtig, eine Situation einfach nur schnell zu beurteilen, um entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. 

Generell sollte eine Situation aber erst interpretiert und dann bewertet werden (Van Es und Sherin, 2002).

Beim professionellen Sehen für Dozierende geht es konkret um drei Schritte

  1. Das Entscheidende in dem bestimmten Kontext erkennen
  2. Diesen Moment zu analysieren und interpretieren.
  3. Eine Entscheidung zur treffen, wie reagiert werden soll.

In Präsenzseminaren registriere ich jede Kleinigkeit. Ich habe einen Rundumblick. Filtere die entscheidenden Situationen mit hoher Treffsicherheit heraus und weiß, wie ich professionell reagiere. Manchmal verständnisvoll, witzig, ernst oder ich ignoriere bestimmte Momente. Habe eine geschärfte Intuition und kann mich auf meine Erfahrung und Wachsamkeit verlassen.

Zurück zu meinem schwarzen Monitor. 23 stumme, unsichtbare eingeloggte Studierende. Mein eigenes Videobild. Alle Mikrofone sind geschlossen. 

Meine Antennen sind ausgefahren. Mein Rundumblick scannt den Monitor. Gähnende Leere. Meine Antennen hängen schlaff herab. Sie brauchen mehr Action. Sie zucken kurz auf, wenn ich ahne, bei wem gleich das Mikro angehen wird. Manchmal weiß ich das kurz vorher.

Die gefragte Person lässt mich meine Frage wiederholen. Sie war vielleicht nicht am Platz oder hatte ein anderes Gespräch oder hat geträumt. Dennoch zeigt sie sich gesprächsbereit. Sie könnte es sich bequem machen und im World Wide Web verstecken. Stattdessen fragt sie nach. Signalisiert Interesse. Oder hat sie Mitleid?

Lehre ist Interaktion, Beziehung, Kommunikation, Vertrauen. Wie in einem Ping-Pong-Spiel geht es um ein gemeinsames Miteinander. Ideen und Gedanken werden ausgetauscht, abgeändert, weiterentwickelt.

Die Studentin antwortet weiter: „Also meine Mutter hört die ganze Zeit zu und meint Folgendes …“. Ich bin überrascht und sage „Ach was, Ihre Mutter ist die ganze Zeit dabei? Und ist Expertin? Hat sie vielleicht Lust, vor die Kamera zu kommen und Ihre Perspektive darzustellen?“

Das Mikrofon wird wieder geschlossen.

Stille.

Spannung.

Erst ein Zucken. Dann ein Knistern.

Mikrofon an.

Kamera an.

Und die Mutter erscheint vor der Kamera, lächelt und erzählt ihre Geschichte. 

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